Respekt für Jesse May – Lederer&Ferguson Feel The Shame- Der arme Arm

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Die Welt mit anderen Augen sehen? Was für eine absurde Idee. Meine alte Welt hat mir doch großartig gefallen genau so wie sie war. Den besten Job, die besten Leser und trotz der paar Jährchen auf dem Buckel immer noch geschmeidig unterwegs. Jetzt bin ich ein wenig angeschlagen und alle sind so nett zu mir. Sehr verwirrend. Man hält mir die Tür auf, keiner drängelt im Supermarkt und auf der Tankstelle wurde mir tatsächlich geholfen und ich dachte, die könnten nur Brot backen.  – Vielleicht sollte ich der Welt ein klein wenig zurück geben von dieser milden Nettigkeit? Vielleicht sollte ich zum Beispiel jemandem verzeihen, dem ich niemals verzeihen wollte? Quasi als Geste der Dankbarkeit und in Hoffnung auf baldige Genesung. Jesse May würde sich da anbieten. Der hat auf pokerfarm.com einen großartigen Text geschrieben zu Howard Lederer und Chris Ferguson. Polemisch, pathetisch und eitel. Genau so wie es gehört und dabei böse und messerscharf. Wäre mein englisch nicht so durchschnittlich und wäre es mir nicht zu anstrengend mit einer Hand im Wörterbuch zu suchen, ich würde mir den Text schnappen, übersetzen und als meinen ausgeben. Gewissermaßen als kleine Wiedergutmachung. – Immerhin schuldet mir Jesse May von einer zweifelsfrei verlorenen Wette $400 und das seit fünfzehn Jahren! Aber das ist dann eine ganz andere Geschichte.

Mein armer Arm. – Zurück zu den wichtigen Dingen und es kann gar nicht genug gejammert werden. Frauen stehen doch auf jammernde und leidende Männer. Oder habe ich da was missverstanden? Jedenfalls habe ich begonnen zu lügen. Alles andere ist einfach zu langweilig. Praktisch jedes Wort zu meinem Arm ist gelogen und wenn ich mal kurz vergesse zu lügen, sage ich einfach die Unwahrheit. Automatisch.

„Sport ist nichts für alte Männer. Hat sich der Federball gewehrt oder beim Boccia spielen gestürzt?“

„Das sieht aber schlimm aus – wie ist denn das passiert?“

“ Tut das sehr weh? – Was hast du um Gottes Willen angestellt?“

„Wohl mit den falschen Leuten gepokert – Hast du Anzeige erstattet, oder tut man so was nicht bei euch?“

Es ist einfach zu langweilig und mühsam. Treffe ich einen Albaner, flunkere ich etwas von einem Pokerspiel gegen einen albanischen Mafiosi, der mich beim Betrügen erwischt hat. Treffe ich einen Türken oder einen Serben variiere ich die Story nur geringfügig und wechsle die Nationalitäten entsprechend aus. Kürzlich traf ich einen Ägypter und wusste nicht was ich erzählen sollte. Einen Ägypter, bei dem man schummeln müsste um beim Pokern zu gewinnen? Den gibt es nicht. Wem zehntausend Jahre lang die Wüstensonne auf die Gene gebrannt hat, der kann sich nicht um Odds und Outs kümmern. Der hat andere Probleme. Deswegen steht „der gewinnende Ägypter“ auch auf der Liste der lizensierten und geprüften Oxymora gleich neben „fangsicherem englischen Nationaltorhüter“.

Die alte Wette – Noch ein paar Anmerkungen zu Jesse May und seiner zweifelsfrei verlorenen Wette. Wir gehen zurück ins Jahr in 1996. Es gab keine Odds Calculator, keine ITM Rechner und die meisten relevanten Zahlen wurde konservativ mit Zettel und Kugelschreiber errechnet. Die Pioniere benutzen Taschenrechner, aber wer im Casino einen Taschenrechner mit hatte, ließ sich wahrscheinlich auch noch von der Mutter die Haare schneiden. Gespielt wurde nach heutigem Geld 40/80E Limit Holdem und mir wurden in der Nacht ebenfalls kräftig die Haare geschnitten. Nach drei Stunden immer noch pot-frei und massiv im Brand wandte ich mich an den Dealer: Junge, warum sehe ich von den 19 600 Flops immer den, der am wenigsten passt?“ – Geändert hat sich danach gar nichts, aber am Tisch entspannte sich eine rege Diskussion über die Zahl 19 600. Manche meinten es gäbe sicher nicht mehr als ein paar Hundert Flops, andere kalkulierten gleich mit Millionen („wenn man die verschiedenen Farben auch zählt“). Es war halt noch die goldene Ära in der folgender Grundsatz galt: Möglichst wenig wissen und möglichst hoch spielen.

Jesse May war mein einzig ernstzunehmender Gegner in der Diskussion. Seine These, ich hätte selbstverständlich unrecht. Er wüsste die Zahl nicht, aber es gäbe garantiert mehr als 20 000 Flops. Nach seinem Gefühl irgendwo so bei 23 000. Ich erwiderte auf Englisch, dass er nicht vergessen dürfe, dass ich ja aus meiner Perspektive zwei Karten kenne und den Dealer ja gemahnt habe, mir nicht den schlechtesten der ihm möglichen 19 600 Flops zu dealen. Das spiele überhaupt keine Rolle, meinte Jesse nur und bot mir eine Wette an. Angenommen. Jeder legte einen 5000.- ÖS Schein auf den Tisch und unser Mathematikexperte und Backgammon-Pro zückte Kugelschreiber und Zettel.

(50 x 49 x 48) : (3 x 2 x 1) = 19 600  – Gewonnen! Mehr an flopmäßigen Variantenreichtum gibt und gab es nicht zu meinen zwei Karten. Jesse stutzt kurz, zog seine 5000.-ÖS sicherheitshalber ein Stück weiter zu sich und meinte, dass ich in gewisser Weise recht habe, aber wenn man meine Karten mitmischen würde sähe die Rechnung doch ganz anders aus. Deswegen „unentschieden“ und so schnell habe ich einen Fünftausender selten in einer Hemdtasche verschwinden sehen. Gemurre am Tisch. Kopfschütteln und Fremdschämen, mehr als ein Jahrzehnt bevor das Fremdschämen eigentlich erfunden wurde.

Wie gesagt, das alles sei Jesse May mit dem heutigen Tag vergeben. Sein Text ist einfach zu gut und trägt noch dazu den Titel „Feel The Shame“. Und genau von dieser „Shame“ will ich meinen Kollegen für immer befreien. Sehen wir es so, 19 600 ist gewissermaßen so knapp an 20 000. Da kann man als großer Geist schon mal darüber hinwegsehen. Unentschieden ist fair (irgendwie). – Bei meinen ägyptischen Freunden – besonders bei Said, Morsi und Ibrahim – entschuldige ich mich in aller Form und verspreche keine Witze mehr zu machen. Allerdings erst dann, wenn ihr aufhört gruselige ägyptische Pizzen zu backen, um sie dann in Pappkartons mit italienischen Fähnchen zu verscheuern.

Götz Schrage

PS: Der erste Leser, der die Formel nicht versteht, bekommt von mir eine Stunde angewandte Pokermathematik per Skype-Unterricht. Vielleicht erzähle ich dann auch weltexklusiv die Wahrheit über meine Hand. Aber nur vielleicht.

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