

Und dabei hatte der Abend schon so schlecht angefangen. Vielleicht sollte ich nach Mitternacht einfach ins Bett gehen und nicht ins Casino. Kaum war ich auf der Straße hätte ich es eigentlich erkennen können, ja quasi irgendwie wissen müssen. Nur dazu sollte ich ein weniger schlauer sein – und beherrschter sowieso.
Um es wirklich in gebotener Kürze zu erzählen, müsste ich mich jetzt konzentrieren. Dazu fehlt mir nach der gestrigen Session die entsprechende geistige Frische. Wie auch immer, kaum war ich aus meinem Haus draußen sah ich den Straßenpinkler am nachbarlichen Haustor sein Geschäft verrichten. Geleitschutz hatte er dabei von seinem Freund, der quasi Schmiere stand und konzentriert und abwechselnd in beide Richtungen der menschenleeren Straße starrte. Ich wurde ignoriert und das kann ich sowieso nicht leiden und pinkelnde Männer am Nachbarshaustor noch weniger.
„Jungs, es gibt genug Lokale in der Nähe. Muss das sein?“, sagte ich. „Was willst du von uns?“, war die wenig konstruktive Antwort des schmierestehenden Assistenten. Ich sah mir mein Gegenüber genauer an: knapp ein Metersiebzig groß, Strohut (wir hatten draußen minus zehn Grad), weißes Hemd offen, dünnes Jäckchen ebenfalls geöffnet und ein Teint wie Peter Doherty an einem schlechten Tag.
„Was ich will, spielt keine Rolle“, antwortete ich. „Was ich nicht will ist, dass ihr auf meine Straße pinkelt“. Der Verursacher der urbanen Stoffwechseldiskussion hatte seine Hose inzwischen notdürftig geschlossen und kam näher. Ebenfalls schmächtig, kein Riese vor dem Herrn, Hemd und Jacke geöffnet trotz der erwähnten eisigen Temperaturen, eine Brille wie Kurt Krömer und hut- aber keineswegs sprachlos. „Wenn ich könnte, würde ich ihn wieder auspacken und dir hier direkt vor die Füsse pissen.“
Ich war ratlos und vor allen Dingen maximal verwirrt. Kurz zu meiner Person, damit sie das ganze Bild im Kopf haben. Knapp zwei Meter groß, hundert Kilo, einen leichten Hang zur Hässlichkeit, wenn ich mich aufrege und trotz dutzender Therapiesitzungen immer noch diesen psychotischen wütenden Ausdruck im Gesicht, der mir schon viel Ärger erspart hat (oder verursacht hat – je nachdem wie man es betrachtet).

„Sag jetzt besser nichts mehr!“
„Weil was sonst?“
„Sag jetzt besser nichts mehr!“
„Weil was sonst?“
Usw., usf.
Und das wäre wahrscheinlich noch ewig so weiter gegangen, wenn sich der bebrillte Pinkler nicht mit einem „Lass die Schwuchtel, gehen wir“ eingemengt hätte. Der Strobehutete hielt kurz inne, nickte mir zu und in einem Moment der Unachtsamkeit küsste er mich auf die Schulter! Unglaublich, ich weiß, aber es war so. In einem Bruchteil einer Sekunde schnellte sein Kopf nach vorne und schmatzte mir auf die Jacke.
Was hatte das alles zu bedeuten? Wie reagiert man adäquat und angemessen? Was machte diese Jungs so sicher? Drogen? Oder haben die sich gerade die große Bruce Lee DVD-Box reingezogen und glauben, dass können sie jetzt auch? Oder steckte was Reales dahinter? Vielleicht unangenehm aufmunitioniert oder eben in ein Waffengeschäft eingebrochen und auf der Suche nach einem Dummie?
Wie auch immer, ich fuhr dann ins Casino. Saß da immer noch verwirrt – und zugegeben ob dieser Verwirrung – ein wenig teilnahmslos und kampfunkräftig. Dann kam dieser sonderbare Pot. Ich hatte das große Blind, mein linker Nachbar macht ein Minraise auf zwei Big Blinds. Der verschlagen-grinsende Araber sah angewidert in sein Blatt, nahm die Karten, um sie andeutungsweise – und ebenso angewidert – zu entsorgen. Schien sich das im allerletzten Moment nochmal zu überlegen und zahlte dann doch. Fold, fold, fold bis zu mir. Zwei Jacks, kein Plan und ein sofortiges Raise auf satte zehn BB. Mein linker Nachbar schmiss in einer Zehntelsekunde weg und in einer weiteren Zehntelsekunde schob der Araber seinen ganzen Stack in die Mitte. Viel Geld, vielleicht nicht viel Geld für die German Highrollers. Aber für mich viel Geld und für den Araber mit dem ausgewaschenen Plastikpullover sicher auch.
Was hatte das alles zu bedeuten mit dem angedeuteten Fast-Fold und der ganzen Show von eben gerade. Sollte ich einfach wegschmeissen und weiter über den Schulterküsser und den Sraßepisser nachdenken? Hielt mich die ganze Welt irgendwie für jemanden, den man rumschubsen konnte, wie es einem passte? Stand da irgendwo auf meiner Stirn: „Der Mann wird dieses Jahr 50, dem zeigen wir es jetzt?“ Oder was war los?

Autor: Götz Schrage







